ES IST DIE FORM DIE DEN STOFF ÜBERWINDET
|
helmutponier
Die Metamorphose der Form
Zum bildnerischen Werk von Helmut Ponier
Elisabeth Vera Rathenböck
Die große Obsession der klassischen Kunst des 20. Jahrhunderts war bekanntlich die Bewahrung der Form. Damit ging ein Wiederentdecken der Bewusstheit und des Verstands in der Kunst einher, die subjektive Wahrheit sollte nicht in der Farbe, auch nicht in der Auflösung der formalen Werte gefunden werden, sondern in der Befassung mit der Grundproblematik der Malerei: wie kann unter Verzicht auf Perspektive und Illusion ein Formenensemble geschaffen werden, das malerisch eine Antwort auf Vorgänge des Lebens gibt? Die Motive lösten sich so weit von Genrezuordnungen, dass die schlichte Beschäftigung mit den Formen an sich zum Gegenstand der Malerei werden konnte – ein Thema der Malerei, das auch heute nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Formgebung und Formfindung sind allerdings Phänomene, die nicht allein der Kunst vorbehalten sind. Die Natur folgt in jedem Augenblick diesen schöpferischen Prinzipien, denen das physikalische Grundgesetz actio = reactio, auf jede Bewegung folgt eine Gegenbewegung, inne wohnt. Der Physiker Erwin Schrödinger skizziert in seinem Buch „Die Natur und die Griechen“1 die ganzheitliche Weltsicht der Griechen, die er einem rein mechanistischen Weltbild gegenüberstellt, das mit der dogmatischen Einführung der exakten Wissenschaften längst seinen Siegeszug angetreten hat. Dabei wirft Schrödinger die grundsätzliche Frage nach den geistesgeschichtlichen und ethischen Aspekten des wissenschaftlichen Fortschritts auf, was heute bereits zur Überlebensfrage geworden ist. Von welcher Geisteshaltung aber zeugen diese unterschiedlichen Auffassungen von der Natur? Welches Menschenbild spiegelt sich in ihnen und woran misst sich der Beitrag des menschlichen Bewusstseins zur Evolution? Diesen Fragen geht Schrödinger nach, wenn er sagt, dass sich unser Bewusstsein nicht aus dem Naturzusammenhang ausgliedern lässt, es bestehe aus denselben „Baumaterialien“ wie unsere Außenwelt, „(…) nämlich aus Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken.“2 Auch hier gilt: actio est reactio.
Gerade die Kunst ist ein Feld, in dem sich Philosophie und Naturwissenschaft berühren können, ohne miteinander in Konkurrenz zu treten. Wenn Helmut Ponier sagt: „Meine Kunst verhält sich zur Evolution gleichnisartig“, so spiegelt sich darin der Wille wieder, die Beziehung von actio = reactio, von Impuls und Reaktion, von Form und Gegenform mit den Mitteln der Malerei genauer zu erforschen.
Ponier nannte bereits im Jahr 1984 eine seiner Ausstellungen „Form und Gegenform“. Diese Dialektik entwickelte sich zur Lebensphilosophie, die heute ein künstlerisches Werk durchdringt, das sich – einem wissenschaftlichen Œuvre vergleichbar – mit den Beweggründen des Seins, des Wahrnehmens und vor allem des Gestaltens beschäftigt. Es ist gerade der Akt des aktiven Gestaltens, der das Menschsein charakterisiert: „Selbst der am stärksten gezogene Strich verkommt ohne Formwillen zur Bedeutungslosigkeit“, sagt der Künstler. Form bezeichnet zunächst den Umriss, die äußere Gestalt, die die Form von ihrer Umgebung außen trennt. Der Aufbau, das Gefüge aber strukturiert den Körper, im Zweidimensionalen zur Fläche degradiert, nach innen. Schon bei Aristoteles ist jedes „Ding“ aus äußerer Form und innerem Stoff zusammengesetzt. Die Form steht in enger Verbindung mit dem Augenblick, da sie den aktualisierenden, die Wirklichkeit verleihenden Faktor darstellt, die causa formalis. In Verbindung mit ihrem inneren Gefüge aber wird die Form auch zugleich zum Ziel des Werdeprozesses, der causa finalis. Mit den Aspekten der Zeit verknüpft, wohnen der Form sowohl der jeweils erreichte Zustand als auch alle weiteren Möglichkeiten inne. Eine (zeitliche) Folge im (zweidimensionalen) Raum entsteht, über die Schopenhauer schon philosophierte: „Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, dass alle ihre Teile in einem Verhältnis zueinander stehen, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen anderen bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dies Verhältnis Lage, in der Zeit Folge. Diese Verhältnisse sind eigentümliche von allen anderen möglichen Verhältnissen unserer Vorstellungen durchaus verschiedene, daher weder der Verstand noch die Vernunft mittelst bloßer Begriffe sie zu fassen vermag; sondern einzig und allein vermöge der reinen Anschauung a priori sind sie uns verständlich: denn was oben und unten, rechts und links, hinten und vorn, was vor und nach sei, ist aus bloßen Begriffen nicht deutlich zu machen.“3
Gerade in der bildnerischen Arbeit darf das Prinzip von Form und Gegenform nicht als einmal fixiertes, auch nicht als statisches, formal vorgegebenes Produkt betrachtet werden. „Meine Darstellung orientiert sich vornehmlich an der Form, wobei die Gegenform ein immanenter Begleiter ist“, sagt der Künstler Helmut Ponier. „Je mehr ich die neue Form abändere, in ihrer Lage und Größe, wird dies der Fläche aufgedrängt. Sie zieht sich dort zurück, wo die Form sich ausdehnt und weitet sich in ihre Ursprünglichkeit, wo die Form sich verkleinert. Sie wird damit zur Gegenform.“ Der Künstler bewegt sich damit in einem offenen System, das sich dem Prozessualen und Schöpferischen verschrieben hat.
Ponier stellt uns in seinen Zeichnungen und Gemälden die Aufgabe, nicht nur eine Form im Gefüge der Komposition wahrzunehmen. Wie Schrödinger fordert er auf, die Außenwelt – die Gegenform – mit Bedeutung aufzuladen, denn immerhin ist sie ebenfalls erst durch unsere Vorstellung zu verankern. Die Welt ist nicht einfach, sondern sie ist so, wie wir sie denken und – in der Folge – formen.
In der Praxis geht Ponier von Skizzen auf Zettel oder Packpapier aus. Suchend erweitert er die Linien zu einer geschlossenen Kontur, die ihren Ursprung in einer Ellipse hat. Ein Prozess des forschenden Besitzergreifens einer Form innerhalb des Rahmens der vorliegenden Fläche, die dabei an Selbstständigkeit einbüßt, beginnt sich zu rhythmisieren. Er verfolgt damit ein Wirkprinzip aus Abhängigkeiten (Dependenzen), gleichsam dem Subjekt-Objekt-Bezug bei Schopenhauer, wo das Objekt nie ohne das Subjekt gedacht werden kann. Der Künstler dehnt die Umrisse aus zu Flächen, die von der malerischen Geste inspiriert eine zunehmende Lebendigkeit erlangen. Dabei dringt er auch in das Innere der Konturen ein, die Fläche wird gleichsam zum aristotelischen Urstoff, in dem das Fühlen wirksam werden kann. Der Künstler sucht nach einem Gefüge in der Leere und entwickelt darin den Dialog der Bildelemente, der in der Überwindung des Widerstands geboren wird. Der Widerstand kommt von dem Material, der Leinwand, den Farben, aber auch von der körperlichen Geste des Malens, des Suchens – ein Vorgang, der nie gleich ablaufen wird. Die Farben bewegen sich in gedämpften Skalen, bewusst gesetzte Kontrastierungen bleiben dem Dialog von Form und Gegenform verpflichtet.
Und alles nahm in der Metamorphose des Eis zur Ellipse den Anstoß. Gleichsam wie das Ei des Kolumbus, in dem das Ursprungsgeheimnis der Welt verborgen bleibt, ist bei Ponier das ungleiche Rund sowohl der zeichnerische als auch der metaphysische Ausgangspunkt: Das Sein bewegt sich nie in einem leeren Raum, sondern es braucht den Widerstand von Materie, von Gedanken und Qualitäten oder von Beziehungen, die Platzierungen definieren. Die Form braucht den Widerstand der Gegenform. Und: Obwohl an sich unvereinbar, bleiben Form und Gegenform untrennbar aufeinander bezogen.
1SCHRÖDINGER, Erwin: Die Natur der Griechen, Wien-Hamburg 1987, S. 26 ff.
2Ebenda, S. 162.
3SCHOPENHAUER, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, S. 158.
|