ES IST DIE FORM DIE DEN STOFF ÜBERWINDET
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helmutponier
Die Kunst, die Zeit und der Raum
Von Elisabeth Vera Rathenböck
„In meiner bildnerischen Tätigkeit, die 1979 begann und sich vorerst auf Naturstudien beschränkte, stellte sich bald die Beschäftigung mit der gegenstandslosen Malerei ein“, sagt Helmut Ponier rückblickend über seinen künstlerischen Werdegang. Doch alles Gegenstandslose braucht einen Berührungspunkt mit der Realität, sei es durch das gewählte Material oder durch die Konzepte, die Abstraktion hervorbringen.
Die Philosophie war schon immer eine Wegbegleiterin der Kunst und sie ist es auch für Helmut Ponier. Allerdings bleibt seine Hinwendung zur Metaphysik von einer unermüdlichen Suche nach dem Verstehen getragen. Dabei geht es nicht um ein bloßes Erkennen der Vorgänge in der Welt, sondern um das Ergründen der Bedingungen, unter denen sich Welt und Leben entwickeln können. Es ist ein Formulieren von elementaren Fragen, die Peter Sloterdijk so skizziert: „Könnte man nicht der Meinung sein, das Leben sei ein ständiges nachträgliches Abfragen von Kenntnissen über den Raum, von dem alles ausgeht?“1
Er leitet damit ein Verstehen ein, in dem das Leben anhand von Form und Raum vermessen wird. Der Philosoph wandelt sich dabei zum Geometer: „Der Überlieferung zufolge soll Platon am Eingang zu seiner Akademie die Inschrift angebracht haben, es möge sich fernhalten von diesem Ort, wer nicht Geometer sei.“2 Wenn der Künstler, der in die Rolle des Philosophen tritt, die Haltung des Geometers, also des „Landvermessers“ annimmt, so werden sich in seinen Artefakten Denken und Form durchdringen und er entdeckt folgendes: „(…) Dass das Leben eine Form-Sache sei – das ist die These, die wir mit dem altehrwürdigen Philosophen- und Geometer-Ausdruck Sphäre verbinden. Sie suggeriert, dass Leben, Sphärenbilden und Denken verschiedene Ausdrücke für dasselbe sind.“3
1SLOTERDIJK, Peter: Sphären Band 1, Frankfurt am Main 1999, S. 11/12.
2Ebenda
3Ebenda
Form und Gegenform
Die Kunst ist ein Ort, an dem sich Philosophie und Naturwissenschaft berühren können, ohne miteinander in Konkurrenz zu treten. Helmut Ponier nannte bereits im Jahr 1984 eine seiner Ausstellungen „Form und Gegenform“. Diese Dialektik entwickelte sich zur Lebensphilosophie, die heute ein künstlerisches Werk durchdringt, das sich – einem wissenschaftlichen Œuvre vergleichbar – mit den Grundbedingungen des Seins beschäftigt: mit Materie, Raum und Zeit.
Das Buch „Die Natur und die Griechen“4 des Physikers Erwin Schrödinger ist für Ponier zum Fundus für seine künstlerische Anschauung geworden. Schrödinger skizziert darin die ganzheitliche Weltsicht der Griechen, die er einem rein mechanistischen Weltbild gegenüberstellt, das mit der dogmatischen Einführung der exakten Wissenschaften längst seinen Siegeszug angetreten hat. Dabei wirft Schrödinger die grundsätzliche Frage nach den geistesgeschichtlichen und ethischen Aspekten des wissenschaftlichen Fortschritts auf, was heute bereits zur Überlebensfrage geworden ist. Von welcher Geisteshaltung aber zeugen diese unterschiedlichen Auffassungen von der Natur? Welches Menschenbild spiegelt sich in ihnen und woran misst sich der Beitrag des menschlichen Bewusstseins zur Evolution? Diesen Fragen geht Schrödinger nach, wenn er sagt, dass unser Bewusstsein sich nicht aus dem Naturzusammenhang ausgliedern lässt, es bestehe aus denselben „Baumaterialien“ wie unsere Außenwelt, „(…) nämlich aus Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken. Es erfordert etwas Überlegung, aber man macht es sich leicht klar, dass auch die Materie aus diesen Elementen und nichts anderem besteht. Ferner spielen Vorstellung und Denken (gegenüber der reinen Sinneswahrnehmung) eine in dem Maß wachsende Rolle, als die Naturwissenschaft, das Wissen von der Natur, sich erweitert.“5
Die Sicht, geistige Innenwelt und materielle Außenwelt in einem Ganzen zu sehen, lässt sich
auf die Kunst Helmut Poniers übertragen. Er handelt das allerdings mit den Mitteln der Kunst ab, nämlich mit Pinsel, Bleistift und Papier. Er stellt uns in seinen Zeichnungen und Gemälden die Aufgabe, nicht nur eine Form im Gefüge der Komposition wahrzunehmen. Wie Schrödinger fordert er auf, die Außenwelt – die Gegenform – mit Bedeutung aufzuladen, denn immerhin ist sie ebenfalls erst durch unsere Vorstellung zu verankern. Die Welt ist nicht einfach, sondern sie ist so, wie wir sie denken und – in der Folge – formen.
In der Kunst beginnt die Gegenform am Umriss eines Gegenstands, also dort, wo der Gegenstand endet. Unsere Gegenform beginnt dort, wo unser Körper endet, nämlich an der Haut. Die Gegenform unserer Gedanken aber setzt wohl dort ein, wo unsere Gedanken bislang immer stehen geblieben sind.
4SCHRÖDINGER, Erwin: Die Natur der Griechen, Wien-Hamburg 1987, S.26 ff.
5Ebenda, S. 162.
Form und Zeit
Die Vorstellung von Form oder Körper im Raum ist nicht ohne den Faktor „Zeit“ zu denken. Der Raum wiederum ist nicht ohne Bewegung zu denken, die den Raum erst erfahrbar macht. Die Zeit aber wird durch die Bewegung, die gleichsam als ihr Niederschlag gesehen werden kann, erfahrbar. Die Bewegung der Körper im Raum gilt als einzige Spur der Zeit, die sie unmittelbar in der Gegenwart verfolgen lässt.
Betritt man die Bildende Kunst, so müssen wir eine Dimension abtreten. Ein Körper verringert sich in der zweidimensionalen Zeichnung oder Malerei zur Form oder Fläche. Der Raum wird in der Zeichnung mit Linien und Punkten gebaut und die Zeit macht vor allem das Entstehen eines Kunstwerks möglich. Auch das Lesen von Bildern ist unverrückbar als Bewegung in der Zeit zu deuten.
Egal ob im Leben oder in der Kunst, die Faktoren Zeit, Raum und Materie bleiben untrennbar miteinander verbunden, ja bedingen einander sogar. Eine ohne das andere wäre kaum zu denken, wie etwa Schopenhauer schrieb: „Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich: kein Nacheinander, keine Veränderung, kein Wirken. Eben mit dem Wirken ist aber auch die Vorstellung der Materie aufgehoben. In der bloßen Zeit wiederum wäre alles flüchtig: kein Beharren, kein Nebeneinander und daher kein Zugleich, folglich keine Dauer: also wieder auch keine Materie. Erst durch Vereinigung von Zeit und Raum erwächst die Materie (…).“6
Und doch bleibt vor allem die Zeit eines der größten Geheimnisse, mit dem sich die Naturwissenschaften, die Philosophie und die Kunst beständig beschäftigen.
Vielleicht aber sind Zeit und Raum ohnehin nur an den Menschen gebunden, wie Immanuel Kant glaubt, wenn er vom Raum als „Anschauungsform des äußeren Sinns“ und von der Zeit „als Anschauungsform des inneren Sinns“ spricht. Ohne den Menschen gäbe es keine Einordnung der Bewegungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und auch keine Erfahrung von Raum. Es könnte unendliche Dauer herrschen.
Helmut Ponier beschäftigt sich in der aktuellen Serie, die in diesem Katalog veröffentlicht wird, vor allem mit Zeit in Relation zur Form. Er ist sich bewusst, dass sich (grafische) Formen in der Zeit entwickeln und dabei sowohl Sequenzen, als auch Mutationen auftreten. „Der Zufall kann eine brauchbare Form mit Notwendigkeit entstehen lassen“, sagt er über den Schaffensprozess. Was Konzept ist, wird im Dialog mit dem Augenblick überwunden, der zudem auch Erinnertes oder Erhofftes aufrufen kann.
Doch Ponier ist es eben nicht an Deutungen im Sinne einer Assoziation von Naturvorbildern gelegen. Er bekennt sich zur Gegenstandslosigkeit und versucht, mit seiner Kunst neue Anordnungen zu setzen, um angestammte Bedeutungen zu verschieben. Hinter den geschichteten Flächen, den Überschneidungen und Raum bildenden Elementen steht eine visuelle Ordnung, die als Basis für die freie Formulierung gelten kann. Im malerischen Duktus der Zeichnung aber wird diese „Ur-Ordnung“ überwunden, ohne verleugnet zu werden. Sie bleibt spürbar, wenn auch nicht mehr offensichtlich.
An das visuelle Prinzip der morphologischen Ordnung gebunden führt er uns anhand seiner Werke vor, dass der sichtbaren Form immer auch eine unsichtbare gegenübersteht. Beide Formen bedingen einander. Aus dem Einen entsteht auch das Andere. Verbunden mit dem Wesen der Zeit, das durch „Bewegt-Sein“ charakterisiert ist, lässt sich das Kunstwerk als offenes System begreifen, das zwar Ordnung kennt, sie aber gegebenenfalls überwindet. Zeit bleibt die Hinwendung auf eine gegenstandslose Vollkommenheit, in der die scheinbaren Widersprüche zwischen Mensch und Natur, Geist und Materie aufgehoben wären.
6SCHOPENHAUER, Arthur: Erstes Buch, Welt als Vorstellung, Stuttgart-Frankfurt/Main 1986, S. 40.
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